Eine Geschichte aus meinem Leben

Einleitung

Der nun nachfolgende Text, bzw. die Geschichte erzählt u.a. eine Begebenheit aus meinem Leben. Mir kommt es nicht darauf an, Mitleid zu erregen, sondern eher Euer Mitgefühl und Verständnis für meine zwangsläufigen Benachteiligungen als behinderter Mensch anzusprechen und zu erwerben. Viele Menschen empfinden im ersten Moment, wenn sie den Begriff „Behinderung“ hören entweder Überforderung, Angst oder Ablehnung.

Gottlob gibt es aber auch Menschen, die es wagen, einen zweiten Blick auf diesen Begriff zu werfen. Und dann gibt es noch diejenigen, die sich dann noch trauen, hinter dem besagtem Begriff, auf den betreffenden Menschen zu schauen. Ich hoffe nun, dass Du dazu gehörst, und ich lade Dich (und eigentlich jeden anderen auch) hiermit ganz herzlich ein, mein Leben als behinderter Mensch, ein wenig besser kennen zu lernen.

Ein in Rente befindlicher Lehrer (Rolf Kips) hat folgenden Text für mich, Christian Fricke, geschrieben, in der Hoffnung, dass ein jeder der diesen Text liest, ein bisschen mehr über mich, meine Behinderung, meine kleinen (und großen) Kämpfe im Alltag verstehen und nachvollziehen kann. In meinen Beiträgen werden diese Themen noch näher beleuchtet und vertieft.
Ich danke allen Mutigen!

Eine Geschichte über Christian Fricke (Von Rolf Kips)

Vor mir sitzt Herr Fricke, ein schlanker 50jähriger Mann mit langem Haar. Seine Geschichte wäre eigentlich schnell erzählt. Er ist von einer betrügerischen
Frau hereingelegt worden, einer Art Heiratsschwindlerin, hat viel Geld verloren. Solche Geschichten passieren nicht selten. Da bedarf es keiner langen Erklärungen. Er verhielt sich leichtsinnig, naiv. Er hat ihr seine finanziellen Geschäfte übertragen, ihr sogar sein Sparbuch anvertraut. Sie hatte ja angeblich in einer Bank gelernt. Sie hat sein Sparbuch geplündert und ist verschwunden. Das Urteil ist schnell gefällt: Das ist blöd gelaufen, aber er ist selbst schuld. Ist er das wirklich? Die Geschichte hat nämlich eine Besonderheit: Herr Fricke ist behindert, er ist Spastiker. An diesem Abend erzählt er mir aus seinem Leben und am Ende frage ich mich, ob wir als Gesellschaft nicht auch einen Teil der Verantwortung für sein Missgeschick tragen müssten. Wieso dies so ist, möchte ich im Folgenden ein wenig weiter ausführen.

Herr Fricke ist ein äußerst sensibler Mensch, der das Geschehen um ihn herum genau beobachtet und tiefgründig analysiert. Und er denkt, dass er mit dem, was ihm passiert ist, von seiner Umgebung – Verwandten, Bekannten, Arbeitskollegen- falsch verstanden oder beurteilt wird. Natürlich sieht er, dass er Fehler gemacht hat, dass er leichtsinnig gehandelt hat, aber dass er so und nicht anders gehandelt hat, hat auch seinen Grund in seiner Behinderung. Und er möchte unbedingt, dass die Menschen um ihn herum dies verstehen. Dazu soll ich ihn mit dieser schriftlichen Abfassung unterstützen.

Herr Fricke legt mir im Verlauf des Abends drei Aspekte vor, die sein Verhalten mitbestimmt hätten. Als erstes ist wesentlich, wie er die Gesellschaft erfährt. In der Regel ist er kein gleichberechtigter Partner, er ist Objekt, Betreuungsobjekt. Er wird im Gespräch leicht ausgeschlossen, ausgegrenzt, man redet über ihn. Er möchte aber Offenheit, keine Abgrenzung, möchte, dass man in ihm den Partner sieht, möchte auf Augenhöhe mit allen umgehen können. Und nun hat er in der Beziehung mit der betrügerischen Frau, die nicht behindert war, eine Gelegenheit seine idealistische Weltsicht zu praktizieren: Offenheit, Vertrauen, Gleichberechtigung, keine Ausschließung, keine Abgrenzung, wie er sie erfährt. Er meint, in einer Ehe darf es doch keine Abgrenzung geben, da muss man doch alles teilen, darf man nichts für sich zurückhalten. Und so hat er alles geteilt, auch sein Sparbuch. Mir scheint, diese ganz offene, positive Haltung zum Mitmenschen ist auch das Ergebnis der häufigen negativen Erfahrungen in seinem Leben. Wir trauen Behinderten zu wenig zu. Er möchte, dass diese Frau erfährt, dass er ihr alles im Positiven zutraut.

Mein Einwand, dass er doch mit einem ihm vertrauten Menschen über die Herausgabe des Sparbuchs hätte sprechen sollen, führt zu einem zweiten Problemfeld in seiner Behinderung. Wieder hängt dies mit dem Umstand zusammen, dass wir in Behinderten zuerst einmal Objekte der Betreuung sehen. Tatsächlich hat er daran gedacht, mit seiner Tante über die Problematik zu reden. Aber er ist sich sicher, dass er das nicht auf Augenhöhe mit ihr kann. Sie wird ihm sagen, dass es kein Verhältnis zwischen einem Behinderten und einer Nichtbehinderten geben kann und wird ihm für seine finanzielle Lage einen Vormund empfehlen. Mir scheint, Viele werden reflexartig bei Behinderten ähnlich reagieren. Auch von Bekannten kann er nichts anderes erwarten. Eine solche Behandlung möchte er aber nicht. Da schweigt er besser, meint er. Bei anderen Gelegenheiten hat er überdies häufiger gehört, dass man in einer Beziehung nicht mit Dritten über Probleme reden solle. Das zeige nur, dass man noch kindlich und nicht erwachsen sei.

Und da ist ein weiterer Aspekt, der mitverantwortlich für sein Handeln ist. Die ständige Erfahrung nicht gleichwertig zu sein verstärkt noch den Wunsch nach einer Partnerschaft auf Augenhöhe mit einer Nichtbehinderten. Herr Fricke schildert bewegt Beobachtungen, die diese Herabwürdigung einer behinderten Person veranschaulichen. Werden Personen im Rollstuhl geschoben, wendet sich die Person, die von demjenigen im Rollstuhl etwas möchte nicht an den Behinderten, sondern an die Person die ihn schiebt. Und seine Verwandten, aber nicht nur diese, legten ihm immer nahe, seine Behinderung doch etwas zu kaschieren. So solle er z.B. Anzug und Krawatte tragen. Aber er selbst fühle sich so wie er sei gut. Er könne mit seiner Behinderung umgehen. Sie sei Teil von ihm und er wolle sich nicht ändern. Aber das akzeptiere die Gesellschaft nicht. Das suggeriere ihm immer Minderwertigkeit. Herr Fricke fragt mich, ob ich ihm zugetraut hätte, so überzeugend seine Lage zu schildern, und ich muss gestehen, dass ich in ihm spontan mehr den armen Menschen gesehen habe, dem man helfen sollte, aber nicht den Gesprächspartner, der einem auch in manchen Punkten die Augen öffnen kann. Und nun hatte er eine Frau getroffen, die ihm das Gefühl gab ein gleichberechtigter Partner zu sein. Das wollte er um keinen Preis aufs Spiel setzen.

Drei Momente, die freilich alle mit seiner schwachen Position in der Gesellschaft zusammenhängen, haben sein Missgeschick mitverursacht:
Erstens sein idealistisches Bemühen die Frau nicht so zu behandeln, wie er von der Gesellschaft behandelt wird. Dann sein Zögern, Rat und Hilfe einzuholen, weil er erneut eine Demütigung erwartete. Und zuletzt sein Wunsch, der aufgrund der vielen negativen Erlebnisse übergroß war, endlich eine gleichberechtigte Beziehung einzugehen.

Das Gespräch hat mir gezeigt, dass wir als Gesellschaft gegenüber den Behinderten Mitverantwortung tragen, dass wir sie mehr kennen lernen sollten, ihnen mehr zuhören sollten, in ihnen mehr den Mitmenschen sehen sollten. Es hat mir aber auch deutlich gemacht, die Begegnung mit ihnen ist wertvoll. Sie fordert unsere oft unreflektierte Sichtweise heraus. Ein Beispiel hierfür. Herr Fricke beklagte, dass nach dem Gottesdienst in St. Matthias immer die gleichen Grüppchen zusammenständen. Mit ihm gäbe man sich nicht ab, außer vielleicht einem knappen Zuruf. Ich meinte zuerst, das sei doch ganz natürlich und nicht anders zu erwarten. Man kenne sich doch. Aber dann kamen wir darauf, dass wohl Jesus seinen Jüngern auch etwas ganz anderes zugemutet hätte. »Zu einem Essen solltest du nicht deine Freunde, Geschwister, Verwandten oder die reichen Nachbarn einladen. Sie werden dir danken und dich wieder einladen. Dann hast du deine Belohnung schon gehabt. Bitte lieber die Armen, Verkrüppelten, Gelähmten und Blinden an deinen Tisch. “ (Luk.14,12) Sollte man da nicht auch nach dem Gottesdienst einmal seine Kreise verlassen und auf Fremde zugehen?